Chronik

Die Geschichte des Instituts für Soziologie an der Universität Mainz – ein Zeitzeugenbericht

Prof. em. Dr. Gerhard Schmied

Soziologie wurde an der Universität Mainz schon vor der Gründung des Instituts für Soziologie gelehrt. Leopold von Wiese aus Köln hatte den ersten Lehrauftrag für Soziologie an der Mainzer Universität inne. Hier wurde er 1951 zum Ehrendoktor ernannt. Ferner sind im Zusammenhang mit Mainz die Namen von Hans Paul Bahrdt und Wilhelm E. Mühlmann geläufig. Im „Wörterbuch der Soziologie“ von Karl-Heinz Hillmann (1994) heißt es im Falle von Bahrdt „1958 Priv.doz. Mainz" (S.69), und für Mühlmann wird angegeben: „1950 apl. Prof. für Soziol. und Völkerpsychol. Mainz, 1952 o. Prof. für Ethnologie und Soziol. ebd.“ (S.581). Ob Bahrdt soziologische Lehrveranstaltungen abgehalten hat, könnte einmal anhand von Vorlesungsverzeichnissen nachgeprüft werden. 1973 wurden die Lehrstühle für Soziologie an der Philosophischen und der Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in einem Institut am neu gegründeten Fachbereich 12 zusammengeführt.

1966 übernahm Helmut Schoeck den Lehrstuhl für Soziologie an der Philosophischen Fakultät  der Universität. Fast gleichzeitig wurde mit Friedrich Jonas ein weiterer Vertreter des Faches in die Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften berufen. Helmut Schoeck war mein Doktorvater und späterer Vorgesetzter. Er wurde 1922 in Graz geboren. Seine österreichische Herkunft blieb zeitlebens in der Sprachfärbung erkennbar, obwohl er schon als Kind nach Württemberg gekommen war und in Ludwigsburg die Reifeprüfung abgelegt hatte. Bereits als Schüler war seine Antipathie gegen den Totalitarismus – damals gegen den rechten wie später gegen den linken – ausgeprägt. Als einziger in seiner Schule war er kein Mitglied der HJ, und er gehörte einem Kreis an, der während des Krieges verbotenerweise BBC abhörte. Letzteres war auch der Anlass, ihm nach Kriegsende Verbindungsfunktionen zwischen der Militärverwaltung und dem deutschen Rundfunk sowie der Landesregierung zu übertragen. Helmut Schoeck studierte, unterbrochen von Phasen des Wehrdienstes, in München und Tübingen Medizin, Philosophie und Psychologie und promovierte 1948 bei Eduard Spranger mit einer Arbeit über die Wissenssoziologie Karl Mannheims. Obwohl er in Deutschland sowohl aufgrund seiner Leistungen als auch aufgrund seiner Kontakte gute Karrierechancen gehabt hätte, stellte er sich einer neuen Herausforderung und siedelte in die USA über. Stationen waren die Yale University, das Fairmont State College, Virginia, und zuletzt die Emory University in Atlanta, Georgia, wo er von 1954 bis 1965 eine Professur für Soziologie innehatte. Danach übernahm er an der Johannes Gutenberg-Universität das Ordinariat für Soziologie.

1966 erschien sein Werk „Der Neid“, mit dem er international bekannt wurde. Diese Schrift wurde in mehrere Sprachen übersetzt, zuletzt sogar ins Chinesische. Die Schrift wurde nicht nur als wichtiger Fachbeitrag wahrgenommen, sondern auch zur politischen Argumentation benutzt. Der eher von konservativer Seite gebrauchte Begriff des Sozialneides ist ein Beleg dafür. Schoeck wirkte bewusst in die politische Diskussion hinein. In einer Reihe von Büchern, Artikeln und Kolumnen (u.a. im „Industriekurier“ und in der „Welt am Sonntag“) legte er seine Thesen einem breiten Publikum vor. Zwei der vielen Buchtitel sollen hier exemplarisch genannt werden: „Ist Leistung unanständig?“ aus dem Jahre 1971, das in schneller Folge siebenmal aufgelegt und 1988 neu ediert wurde, und „Schülermanipulation“ aus dem Jahre 1976. Mit dem Leistungsprinzip und den damals praktizierten Schulreformen erörterte Schoeck zwei zentrale Topoi der damaligen politischen Diskussion, was ihm wütende Proteste, aber auch den Respekt von Kollegen einbrachte, die ihm zustimmten, sich aber nicht in gleicher Weise exponierten wie er. Im persönlichen Umgang war Schoeck ein eher zurückhaltender Mensch, gleich bleibend freundlich und in der Diskussion inspirierend. Mitarbeiter von Schoeck waren nacheinander Peter Kaupp, Annelies Ritter und Gerhard Schmied, der sich 1974 mit einer Arbeit zur sozialen Zeit bei ihm habilitierte und 2005 pensioniert wurde.

Zur Abteilung von Friedrich Jonas gab es nicht viel Kontakt, obwohl Jonas und Schoeck beide Konservative waren. Jonas betonte in einer von mir besuchten Lehrveranstaltung, dass er die Linie des für diese Orientierung bekannten Arnold Gehlen vertrete. Eine weitere Parallelität zwischen beiden war das Interesse für Geschichte der Soziologie. Jonas verfasste 1968ff. eine vierbändige „Geschichte der Soziologie“, und Schoeck hatte bereits 1952 seine umfangreiche „Soziologie“ (eine spätere Auflage trug den Titel „Die Soziologie und die Gesellschaften“, die Taschenbuchausgabe von 1974 hieß „Geschichte der Soziologie“) vorgelegt. Diese Schrift stellte für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg eine Pionierleistung zur Geschichte der Soziologie dar. U.a wurden hier der deutschsprachigen Leserschaft zum ersten Mal Texte von Talcott Parsons vorgestellt. Jonas’ Beschäftigung mit der Industrie war, wenn man seine Dissertation heranzieht, philosophisch orientiert, obwohl er auch auf Praxis bei der Gutehoffnungshütte verweisen konnte. Er verstarb 1968 bei einem Verkehrsunfall.

Eindeutig empirisch fundiert war das Soziologieverständnis seines Nachfolgers Friedrich Landwehrmann, der 1971 aus Bochum nach Mainz kam, nachdem Helmut Klages und Gerhard Schmidtchen den Ruf abgelehnt hatten. Landwehrmann, der seit seiner Emeritierung in Spanien lebt, leitete die Abteilung „Industrie und Betrieb“. Einiges, das zu dieser Disziplin passt, war auch in seinem Habitus zu finden. Er agierte resolut und argumentierte offensiv. Soweit ich involviert war, empfand ich das Gesprächsklima in Besprechungen der Abteilungsleiter, bei denen ich anwesend sein durfte, konstruktiv, zumal Schoeck nicht an einer Konfrontation lag. Unterschiedliche Meinungen, die allerdings nicht dauernd thematisiert wurden, betrafen die Art der Abschlüsse und die Größe des Instituts. Schoeck plädierte stets dafür, dass lediglich die Grade Magister und Dr. phil. angestrebt werden könnten; den Grad eines Diplom-Soziologen lehnte er ab. Er konnte sich nicht die vielfältigen Aufgabengebiete vorstellen, in denen Soziologen heute tätig sind. Er glaubte, Soziologen seien nur dazu da, wieder andere Soziologen heranzubilden, die wiederum andere Soziologen ... Dazu benötige man lediglich ein kleines Institut, so wie er es hatte: mit einem Professor, einem Mitarbeiter und Büropersonal. Schon die Stelle eines zweiten wissenschaftlichen Mitarbeiters, das war Harald Lofink, der 2011 in Ruhestand ging, hat man ihm eher zugewiesen, als dass er sie angestrebt hat. Anders Landwehrmann: Er übernahm nicht nur Manfred Hennen, den Mitarbeiter von Jonas, sondern brachte eine ganz Reihe weiterer Mitarbeitern mit: Klaus Marel, Wolfgang-Ulrich Prigge und Rolf Sudek. Unter Landwehrmann habilitierten sich Manfred Hennen und Wolfgang-Ulrich Prigge. Hennen leitete später das neu gegründete „Zentrum für Qualitätssicherung und –entwicklung“ (ZQ) und Prigge stand in Mainz der Abteilung „Soziologie der Arbeitsbeziehungen“ vor.

Landwehrmann betreute, auch mit Hilfe seiner Mitarbeiter, umfangreiche empirische Projekte, darunter Begleituntersuchungen bei der Einführung des privaten Fernsehens, dessen deutsche Anfänge in Ludwigshafen zu suchen sind. Im Rahmen dieses Projektes ist auch die Habilitation von Michael Jäckel zu verorten, der seit Jahren in Trier Soziologie lehrt.

Mit dem Ausbau der Universität Mainz in den sechziger Jahren kamen neue Anforderungen auf das Institut für Soziologie zu. Ein neuer Abschluss, der viel Zuspruch fand, war der Abschluss „Diplom-Pädagoge“. Für den soziologischen Part der Ausbildung wurde eine Professur für Familiensoziologie ausgeschrieben, die mit Georg Schwägler besetzt wurde. Er war 1970 mit einer Arbeit „Die Soziologie der Familie. Ursprung und Entwicklung“ promoviert worden. Er publizierte nach seiner Berufung wenig, war aber auch durch viele Prüfungen belastet. Es war bekannt, dass er an einer großen Studie über Verwitwung – er war selbst jahrelang Witwer – arbeitete. Ich habe ihn selbst in der Interdisziplinären Arbeitsgruppe für Thanatologie, der wir beide angehörten, über dieses Projekt referieren hören, aber es blieb ein Projekt. Bei ihm habilitierte sich Manfred Herzer, der im Zentrum für Qualitätssicherung und – entwicklung (ZQ) tätig ist.

Für kurze Zeit war auch Wilfried Schlau Mitglied des Lehrkörpers. Der Professor an der kurz zuvor geschlossenen Erziehungswissenschaftlichen Hochschule in Worms wurde kurzerhand dem Institut in Mainz zugeteilt, und als die Mainzer sich sträubten, wurde binnen kurzer Frist Vollzug angeordnet. Ab 1979 war Schlau in Mainz tätig. Er sollte für die Sozialkundelehrer zuständig sein. Der Einbezug von Schlau erwies sich in doppelter Hinsicht als Vorteil für das Institut. Beim Protokollieren der von ihm abgenommenen Prüfungen stellte ich fest, dass es sich bei Schlau um einen sehr kompetenten Fachvertreter handelte und da seine Stelle nach der bald eingetretenen Versetzung in den Ruhestand wieder besetzt wurde, hatte das Institut einen zusätzlichen Hochschullehrer gewonnen. Auf diese Stelle wurde Birgitta Nedelmann berufen, die erste Hochschullehrerin am Institut für Soziologie. Mit ihr war auch wieder die soziologische Theorie schwerpunktmäßig vertreten. Nach ihrer Pensionierung folgte ihr für relativ kurze Zeit André Kieserling. Nach seinem Weggang nach Bielefeld wurde die Stelle umgewidmet und mit Herbert Kalthoff besetzt, dessen Schwerpunkte „Wissens- und Bildungssoziologie sowie Methoden der qualitativen empirischen Sozialforschung“ sind.

Nach dem Tod von Helmut Schoeck gelang es nicht, einen geeigneten Nachfolger mit den  Schwerpunkten „Theorien“ und „Geschichte der Soziologie“ zu finden. In einer längeren Prozedur widmete man die Stelle um und berief mit Stefan Hradil einen Spezialisten für das Gebiet „Sozialstruktur und soziale Ungleichheit“. Zu diesen und benachbarten Feldern legte Hradil zahlreiche Publikationen vor. Exemplarisch soll auf seine mehrfach aufgelegte Schrift „Soziale Ungleichheit in Deutschland“ verwiesen werden. Außerdem war Hradil in vielen Gremien präsent: U.a. ist seine Vorstandstätigkeit in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und in der Schader-Stiftung zu nennen. Er gründete die Sektion „Soziale Ungleichheit und Sozialstrukturanalyse“ in der DGS. Mit Hradil konnte die Etablierung des Diplomstudiums erfolgen, das sich während seiner Tätigkeit – er ging 2011 in den Ruhestand – als Erfolgsgeschichte erwies; die Zahl der Absolventen im Fach Soziologie stieg steil an. Einer der in dieser Aegide Habilitierten ist Udo Thiedeke.

Die drei Abteilungen, die sich mit den Namen von Schoeck, Landwehrmann und Schwägler etikettieren lassen, können bis zur Gründung des Instituts zurückverfolgt werden und bilden die erste Schicht, die Basis für die Erforschung einer Archäologie der Mainzer Soziologie. Wie man am deutlichsten am Beispiel der Abteilung sehen kann, die von Schoeck und danach von Hradil geleitet wurde, kam es zu gravierenden Änderungen der thematisierten Gebiete, die auch den Wandel im Fach generell widerspiegeln.

Wenn nun abschließend auf die neuen Entwicklungen eingegangen wird, sind zwei Tendenzen zu beobachten: Als erstes können Fortführungen der Mainzer "Tradition" festgestellt werden, wobei in den geänderten Denominationen die speziellen Schwerpunkte der Stelleninhaber oder neuere Tendenzen des Faches ersichtlich werden. Am deutlichsten wird das bei der Stelle, die bei Schwägler der Familiensoziologie gewidmet war. Schwäglers Nachfolger, Norbert F. Schneider, bezeichnete die von ihm besetzte Stelle mit "Soziologie der Familie und der privaten Lebensführung". In seiner Amtszeit habilitierte sich Heike Matthias-Bleck. Schneider verließ das Institut und arbeitet nun im Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Seine Nachfolgerin, Marina Hennig, setzt mit "Netzwerkforschung und Familiensoziologie" einen neuen Schwerpunkt. Nachfolger von Landwehrmann wurde Peter Preisendörfer, der seine Abteilung "Organisation von Arbeit und Betrieb" benannte.

Als zweites wurden neue Stellen geschaffen, die der Entwicklung des Faches oder den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechen. Ebenfalls eine neue Stelle war die als „Frauenprofessur“ bezeichnete Position, die zuerst Bettina Heintz besetzte, die aber auch die Theorieausbildung federführend betrieb. Als Heintz nach Bielefeld wechselte, folgte ihr Stefan Hirschauer, der „Gender Studies“ in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt und ebenfalls „Theorie der Soziologie“ lehrt. Neu eingerichtet ist die Professur für „Soziologie der Hochschule“, eine Stelle, die mit Johannes Angermüller besetzt ist, und das Fach „Mediensoziologie“, das  durch Elke Wagner vertreten ist.

Der Verfasser dieser Übersicht war als Lernender und Lehrender von 1966 - 2005 mit der Mainzer Soziologie verbunden, und sein Text will zeigen, wie die Gegenwart dieses Faches in Mainz auf einer Vergangenheit ruht, die es wert ist, dass man sie ab und zu bedenkt.