Forschung am Institut für Soziologie

Das Mainzer Institut für Soziologie ist ein forschungsstarker Standort der Soziologie in Deutschland. Bei aller Heterogenität der methodischen und theoretischen Ansätze sowie Forschungsthemen zeichnet alle Arbeitsbereiche die konsequente Verbindung von Theoriearbeit, Methodeneinsatz und empirischer Forschung aus. Ganz unabhängig von den Methoden, mit denen wir die soziale Welt erforschen – ethnographische Methoden oder Interviews, Dokumenten- oder Netzwerkanalysen, Umfragedaten oder Simulationsmethoden – wir erproben das methodische, konzeptionelle und theoretische Fachwissen in unseren Untersuchungen systematisch und treiben wissenschaftliche Erkenntnisprozesse an konkreten Gegenständen auf innovative Weise voran.

Die Förderwürdigkeit der Mainzer Soziologie wird durch zahlreiche drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte dokumentiert. Wir nutzen ein breites Spektrum von Förderinstrumenten: Sie reichen von der Förderung einzelner Forschungsprojekte (insbesondere durch die DFG) über langfristige, vom BMBF geförderte Vorhaben (etwa die Panelstudie „Kulturelle Bildung und Kulturpartizipation in Deutschland“) bis hin zu größeren und interdisziplinären Verbundforschungen (wie die DFG-Forschungsgruppe „Un/doing Differences – Praktiken der Humandifferenzierung“ oder das von der Volkswagenstiftung geförderte Projekt „AI FORA – Artificial Intelligence for Assessment“).

Die Resultate der soziologischen Forschung aus Mainz werden regelmäßig auf Fachkonferenzen im In- und Ausland präsentiert und in zahlreichen Büchern und Fachzeitschriftenbeiträgen publiziert.

 

Highlights aus der Forschung

 

Arbeitsbereich Mediensoziologie (Prof. Dr. Sascha Dickel)

Prototypen als Kommunikationsmedien gesellschaftlicher Zukünfte

Das Forschungsvorhaben (2017-2021) geht am Fall von (technischen) Prototypen der Frage nach, wie Gesellschaften ihre Zukunft durch Artefakte zum Ausdruck bringen. Mittels welcher Praktiken werden Zukunftsvorstellungen in Objekte eingeschrieben und gelesen? Wie geben Prototypen einer möglichen Zukunft eine fassbare und prüfbare Gestalt? Zwei Drittelmittelprojekte (gefördert von der VolkswagenStiftung und dem BMBF) bilden den Förderrahmen der Studie. Das VW-Projekt widmet sich einer Exploration des Prototyping als sozialer Praxis. Dabei wird die These entwickelt, dass Prototyping den Raum des Zukünftigen vorauseilend technologisiert. Das BMBF-Projekt geht insbesondere Fragen der Digitalität und Intermedialität von Prototypen nach. Es ist Teil eines umfangreicheren Forschungsverbundes zu Prototypen als Kommunikationsmedien: Was leistet Kommunikation durch prototypische Artefakte im Kontrast zu – und im Zusammenspiel mit – Bild und Text? Wie transportiert etwa der Entwurf eines selbstfahrenden Autos zugleich eine Zukunftsvision des Verkehrs von Übermorgen? Die Resultate des Projekts sollen in eine Ausstellung des Deutschen Museums einfließen.

Arbeitsbereich Netzwerkforschung und Familiensoziologie (Prof. Dr. Marina Hennig)

Aushandlungen und Interaktionen im akademischen Kontext zur Herausbildung eines Wissenschaftsverständnisses

Im Rahmen der sozialen Netzwerkforschung beschäftigten wir uns mit den methodischen Herausforderungen der Erhebung des Spektrums an Interaktionskontexten, in die Individuen in unterschiedlichen Lebensphasen des biographischen Karriereverlaufs eingebunden sind. Hierbei wurden im Rahmen eines vom Zentrum für Schul-, Bildungs- und Hochschulforschung (ZSBH) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) geförderten Projektes zur Wirkung von sozialen Netzwerken auf wissenschaftliche Karrieren thematisch die Auswirkungen von sozialen Beziehungen auf die Entwicklung der Wissenschaftskarrieren von ProfessorInnen erforscht. Die hierzu durchgeführten zehn qualitativen Interviews mit ProfessorInnen aus den Sozial- und Naturwissenschaften verschiedener Universitäten bieten nun die Grundlage zur aktuellen Erforschung des Selbstverständnisses der ProfessorInnen als WissenschaftlerInnen, das sich in Interaktionen und Aushandlungsprozessen zwischen Repräsentanten universitärer hierarchischer Positionen konstituiert. Von Interesse sind zudem die sich dabei abzeichnenden universitätsdisziplinären Wissenschaftsverständnisse.

Arbeitsbereich Sozialstrukturanalyse (Prof. Dr. Gunnar Otte) 

Kulturelle Bildung und Kulturpartizipation in Deutschland

Im Vergleich zu vielen anderen westlichen Ländern fehlt in Deutschland eine regelmäßige Berichterstattung über die Kulturpartizipation der Bevölkerung. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Projekt hatte in der ersten Förderphase von 2016 bis 2019 den Anspruch, eine umfangreiche Basisstudie zu diesem Thema in Deutschland zu etablieren, die zugleich international Maßstäbe setzt. Auf der Basis einer standardisierten Face-to-Face-Umfrage wurden Muster der Kulturpartizipation der deutschsprachigen Bevölkerung ab 15 Jahren analysiert: Wer nutzt welche künstlerischen Produkte der bildenden und darstellenden Künste, der Musik, der Literatur und des Films in welchem Umfang? Wer beteiligt sich an der nicht-professionellen Kulturproduktion in diesen Sparten, z.B. durch Musizieren oder Malen? Und wie lassen sich die gefundenen Muster theoretisch erklären? Dazu wird u.a. den Einflüssen der Sozialisation, der Ressourcenausstattung, des räumlichen Angebots und der kulturellen Bildung nachgegangen. In der zweiten Förderphase von 2019 bis 2023 wird die Basisstudie mit Hilfe von Reinterviews zu einer Paneluntersuchung ausgebaut. Zum einen geht es um die Erweiterung der theoretischen Erklärungsansätze, insbesondere um eine Netzwerkperspektive. Zum anderen werden Stabilität und Wandel der Kulturpartizipation auf der Individualebene über die Zeit untersucht. Das Projekt beansprucht, Basiswissen für Wissenschaft, Politik und die kulturinteressierte Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
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Arbeitsbereich Soziologische Theorie und Gender Studies (Prof. Dr. Stefan Hirschauer)

Pränatale Sozialität. Geschlechterdifferenzierung in der Schwangerschaft und die Konstitution vorgeburtlicher Personen

Die Studie wurde über einen Zeitraum von 10 Jahren (von 2009–2019) in drei aufeinander aufbauenden DFG-Projekten durchgeführt. Sie entwickelte zunächst eine sozialtheoretische Grundlegung der Schwangerschaft und des Ungeborenen als kommunikativ und praktisch konstituierten Phänomenen. Anschließend fragte sie nach der geschlechtlichen Differenzierung (oder Entdifferenzierung) pränataler Elternschaft. Wie ist die postnatale Rollendifferenzierung in ‚Mutter’ und ‚Vater’ in der Schwangerschaft angelegt? Unter welchen Bedingungen werden das doing gender und doing parenting verknüpft oder entkoppelt? Die Studie untersuchte dafür auf Basis von Paarinterviews und Tagebüchern traditionale und posttraditionale, lesbische und schwule Paare. Sie fand durch dieses Gender variierende Forschungsdesign zum einen neue Erklärungen für die Retraditionalisierung der geschlechtlichen Arbeitsteilung in der Familiengründung, zum anderen Mechanismen für das Einrasten oder Aussetzen von Geschlechtszuweisungen: Wann werden sie für Elternschaft relevant, wann werden sie durch geschlechtsindifferentes parentales Engagement überlagert?

Arbeitsbereich Technik- und Innovationssoziologie (Prof. Dr. Petra Ahrweiler)

AI FORA – Artificial Intelligence for Assessment

AI FORA ist ein von der Volkswagenstiftung gefördertes Forschungsprojekt, das den vermehrten Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Verteilung staatlicher Sozialleistungen untersucht. Sich zwar im Hinblick auf Art und Ausmaß unterscheidend, wirft die in vielen Ländern praktizierte Delegation solcher Entscheidungen an Maschinen dennoch überall ähnliche Fragen nach Ethik, Gerechtigkeit, Qualität, Verantwortung, Zurechenbarkeit und Transparenz der Entscheidungsgrundlagen auf. Neben Wahrnehmung, Bewertung und Akzeptanz derartiger Praktiken variieren dabei ebenso die jeweiligen Kontexte infolge von verschiedenen Normen und Werten, Technologieständen sowie wirtschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und institutionell-formalen Rahmenbedingungen. Das Ziel von AI FORA ist es, den gegenwärtigen Status Quo sowie zukünftige Optionen für eine KI-basierte soziale Bewertung im Bereich der Verteilung öffentlicher Dienstleistungen zu verstehen, um bessere KI-Technologie für soziale Wohlfahrtsysteme zu gestalten. Das inter- sowie transdisziplinäre Projekt umfasst Daten aus sechs empirischen Länderfallstudien zu Deutschland, Estland, Spanien, Indien, China und den USA.

 

Arbeitsbereich Wissens- und Bildungssoziologie (Prof. Dr. Herbert Kalthoff)

Soziologie der Bewertung

Ein Forschungsschwerpunkt des Arbeitsbereiches ist die organisierte Evaluation von Menschen (Humanevaluation); der Fall an dem diese erforscht wird, ist die Praxis der schulischen Bewertung. Der Arbeitsbereich knüpft mit dieser Forschung, die Bestandteil einer DFG-Forschergruppe ist, an die ‚E/Valuation Studies’ an, die sich mit Prozessen der Wertung und Bewertung in verschiedenen Feldern beschäftigen. Zentrales Merkmal der Mainzer Forschung ist erstens ihre empirische Grundierung, das heißt, dass wir in einem Zeitraum von sechs Jahren umfangreiche empirische Untersuchungen sowohl in verschiedenen Schulformen als auch in verschiedenen Bundesländern durchgeführt haben (teilnehmende Beobachtungen in den Schulen, Interviews mit Lehrkräften und SchülerInnen sowie Dokumentenanalysen). Zweitens verfolgen wir eine theoretische Konzeptualisierung der empirischen Befunde und knüpfen damit an die Konzeption einer „theoretischen Empirie“ an (Kalthoff et al. 2008), das heißt einer starken und reziproken Verknüpfung von empirischer Analyse und theoretischer Konzeptualisierung. Einige Befunde unserer Forschung: Die Organisation Schule geht davon aus, dass alle Schüler im Unterricht das Gleiche gesehen, gehört und gelernt haben. Sie werden als Gleiche vorausgesetzt, um sie durch die Prüfungs- und Bewertungsverfahren als Ungleiche zu markieren. Schüler sind dabei aufgefordert, hinzunehmen, dass sie sachlich-objektiv bewertet wurden (Faktizität), dass sie es sind, die bewertet wurden (Zurechnung) und dass sie sind, als was sie bewertet wurden (Identifizierung). Lehrkräfte ihrerseits vollziehen eine kontingente Bewertung, die die Leistung der SchülerInnen konstituiert und die zugleich ihren Unterricht (d.h. ihre eigene Leistung) mit reflektiert. Die so gewonnene Bewertung wird in der Organisation Schule gehärtet: Als objektivierte Note erscheint sie auf den Dokumenten der Schule.